Gedichte und Nachdenkliches

Wachstum

Wie geht gutes Wachstum? Das frage ich mich aufgrund eigener Prozesse, in denen meine alte Stabilität verloren geht, selbst immer wieder.

Bei Insekten gibt es zwei verschiedene Arten von Wachstum:

Ein kontinuierliches Wachstum, bei dem das junge Insekt dem ausgewachsenen Tier bereits relativ ähnlich sieht und im Laufe der Entwicklung nur an körperlicher Größe zunimmt und bestimmte Merkmale, z.B. die Flügel mehr und mehr ausbildet. Das ist bei den Heuschrecken so.
Dies nennt man in der Biologie „unvollkommene Verwandlung„. Obwohl ich bei dieser Art Wachstum für „Verwandlung“ eher das Wort „Veränderung“ wählen würde.

Dann gibt es wiederum Insekten, die haben eine „vollkommene Verwandlung„.
Hier kann man wirklich von Verwandlung, Metamorphose oder Transformation reden. Hier gibt es keine „jungen Tiere“.
Viele Menschen glauben zwar, sie hätten einen „jungen Marienkäfer“ gesehen, doch in Wirklichkeit war es nur eine andere, aber ähnliche und eben kleinere Art.
So gibt es auch keine „jungen Schmetterlinge“. Und das weiß nun wirklich jedes Kind: 
Ein Schmetterling ist in „jungen Jahren“ eine Raupe. Sie hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem Schmetterling selbst.
So ist es auch bei den Käfern, nur spricht man hier von „Larven“ statt von „Raupen“.

Mit den Schmetterlingsraupen passiert nun wirklich Unglaubliches, Wunderliches:
Ist es „soweit“, suchen sie unruhig nach einem Platz, an dem sie sich verpuppen können.
Dabei härtet eine äußere Schicht aus und bietet so eine Schutzhülle für das, was dann passiert.
Die einstmals vorhandene Raupe löst sich einfach völlig auf! Nichts von ihr ist mehr, wie es einst war. Sie wird innerhalb der Puppenhülle zu einer völlig strukturlosen und handlungsunfähigen „chaotischen Masse“. Schneidet man eine Puppe in diesem Stadium auf, läuft einem nur „Brühe“ entgegen. Und doch trägt die „Brühe“ ihre Bestimmung ganz klar eingeschrieben:
Eines schönen Tages wird sie nämlich zum prachtvollen Schmetterling, der seine enge Schützhülle verlässt, seine Flügel entfaltet und seinem Lebenals vollendetes Tier entgegenfliegt.

So stelle ich Vergleiche an:

Das körperliche, äußere Wachstum des Menschen ist „unvollkommen“. Es gibt „junge Menschen“. Sie sehen den Erwachsenen ähnlich und entwickeln im Laufe der Zeit nur bestimmte Merkmale heraus. Da wird das „Hänschen klein“ zum „Hans“. Äußerlich. Wie es im „Hans innen“ aussieht, ersieht man daraus nicht. So gibt es wohl viele „erwachsene Kinder“.

Beim seelischen Wachstum scheint es uns eher wie der Raupe und dem Schmetterling zu gehen. Die Verwandlung ist vollkommen:
Es gibt Zeiten, da zerfällt einem, durch äußere oder innere Einflüsse ausgelöst, alles im Leben. Alte Selbst- und Weltbilder lassen sich nicht mehr aufrecht erhalten, stürzen in sich zusammen. Das alte „Ich“ löst sich in ein formloses und unkontrollierbaresChaos auf. Nichts mehr ist, wie es einmal war.
Die gefräßige Raupe muss „sterben“, sie zerfließt in ihre „Grundbestandteile“ und fällt in einen Starrezustand.
Das durch Verletzungen bedürftig gebliebene und dadurch „unersättliche“ Innere Kind wird einem tiefen, völlig unwiderruflichen Transformationsprozess unterworfen. Das löst bei uns zu tiefste Ängste aus. Wir haben es nicht gelernt, uns solch gewaltigen Kräften – mindestens vergleichbar den Kräften, die bei einer Geburt wirken – vertrauensvoll hinzugeben. Und es bedarf liebevoller und intensiver Arbeit mit dem Inneren Kind, um da gut durchzugehen. Denn das Leben lässt nicht locker. Es will, dass wir zum Schmetterling werden.

Das nur durch die Puppenhülle geschützte, den äußeren Widrigkeiten ansonsten hilflos ausgesetzte „Wesen“ ist nun völlig inneren Prozessen überlassen. Sich hier wirklich den kosmischen Kräften hinzugeben und nicht dagegen anzukämpfen oder „anzuschieben“, ist eine große Herausforderung. Denn es stirbt wirklich etwas in uns. Für immer. Ein Teil Kindsein. Und ein guter Umgang mit dem Tod, sowohl dem physischen, als auch dem „Tod im Leben“ wird in unserer Kultur nicht vermittelt und gelehrt.

Und doch sind viele Menschen mit der Tatsache eines anstehenden „Todes im Leben“, eines tiefgreifenden Transformationsprozesses ganz konkret konfrontiert. Das Leben will, dass sie wachsen. Und Wachstum hat immer auch mit Sterben zu tun.

So wünsche ich uns allen, die in solche innere Wachstumsprozesse kommen, uns den kosmischen Kräften hingeben zu können und nicht dagegen ankämpfen zu müssen. Und Hilfe und Unterstützung von anderen Menschen und dem Kosmos.

Tod und Wachstum

Damit wir eines Tages als gesund entwickelte, prächtige Schmetterlinge unsere Schutzhülle verlassen und ins Leben fliegen.

Unsere wahre Bestimmung zu erfüllen.

Fremde Welten

In der Nacht vom 31.12.07 auf den 1.1.08 trifft wieder ein altes Jahr auf ein neues. Ein Mann trifft auf eine Frau, ein Lehrer auf Schüler, die Weißen treffen aufIndianer, Missionare auf Schwarze, ein Kind trifft auf einen Hund….
Was passiert in solchen Augenblicken, in denen zwei fremde Welten aufeinandertreffen?

Diese Fragen kamen mir heute morgen in den Sinn, als ich über den Jahreswechsel nachdachte.
Trifft das alte Jahr auf das Neue, treffen nur zwei willkürlich festgelegte Einheiten, nämlich in Jahre aufgeteilteZeitabschnitte aufeinander. Doch was verbinden wir als Menschen innerlich damit?

Was passiert, wenn zwei Menschen, zwei lebende Welten aufeinander treffen? Was „denkt“ das Gehirn, welche Gefühle löst die Begegnung in uns aus, wie reagiert der Körper? Und was bekommen wir davon überhaupt mit? Und was von der anderen Welt?

Wann treffe ich wirklich auf mich selbst, der „fremden Welt“ in mir? Wann begegne ich wirklich MIR SELBST? Was passiert dann? Woran erkenne ich es? Sofort frage ich mich, wer eigentlich bin denn ICH SELBST?

Die Fragen werden immer mehr und mein Gehirn scheint diesem Ansturm von Fragen nicht gewachsen zu sein. Zudem produziert es diese ja noch selbst! Wozu macht es das? Und schon wieder bin ich mitten drin in diesem Kreislauf von Fragen und Antworten. Scheinbar sinnlos.

Und doch schimmert manchmal bei Windstille durch die beruhigte Oberfläche dieses Meeres von Gedanken, Fragen und Antworten der Meeresgrund hindurch. Es ist mehr ein Erahnen, denn ein Erkennen, eine Mischung zwischen Wissen, Fühlen, Erfahrung und Intuition.

Dann meine ich etwas auf dem Grunde zu sehen:
als Menschen sind wir in der Begegnung mit einer anderen Welt, sei es nun ein anderer Mensch, ein anderes Land oder wie jetzt ein Neues Jahr, ständig von Wünschen, Sehnsüchten, Forderungen, Vorstellungen, Ängsten, Projektionen, Interpretationen…begleitet, die es uns fast unmöglich machen, die andere Welt, die anderen Menschen so zu lassen, wie sie sind. Sie so zu erleben und sie genauso zu genießen. Es ist fast unmöglich für uns, sie so fremd und völlig anders sein zu lassen, sie nicht mit „Harmonisierungs- und Missionierungsbestrebungen“ zu überprägen und letztlich zu ersticken. Wir wollen „vertraut“ mit ihnen werden, indem wir versuchen, unser Weltbild auf sie zu projezieren. Bis nichts mehr vonden fremden Weltenübrig ist. Statt sie „fremd“ sein zu lassen.

WIE fremd diese andere Welt in Wirklichkeit oft ist, wie unergründbar, wie unfassbar, wie sehr viel anders als wir erwarten, meinen und fühlen, wird uns oft erst bewusst, wenn Probleme auftauchen. Zum Beispiel, wenn ein Paar sich trennt. Und wie groß ist dann der Schock, die andere Welt wieder als so anders und fremd zu erkennen. Als das, was uns zu Beginn der Beziehung so faszinierte.
„Das hätte ich nicht von Dir gedacht!“ sage ich dann mit Schrecken über eine „plötzliche Erkenntnis“ über den anderen. Ja, und genau das ist das Problem, dass ich eben nur das über den anderen dachte, was ich denken wollte. Das andere ging irgendwie in mir verloren oder erreichte mich erst gar nie. Wie unglaublich schade!

Ja, die Begegnung eines kleinen Kindes mit einem Hund mag da wirklich noch anders sein: unbedarft, neugierig, unvoreingenommen, erforschen wollend, berühren wollend, offen, „leicht-sinnig“…! Wie schön! Wie einfach! Wie lebendig! Keiner der beiden versucht, den anderen zu verändern – und trotzdem gehen beide ein wenig verändert und reicher aus der Begegnung heraus.

Ichwünsche uns, dem Neuen Jahr mit kindlicher Unbedarftheit, Neugier, Offenheit und Freude begegnen zu können. Und auch den Menschen, die dieses Jahr unsere Wege kreuzen werden. Ohne etwas verändern zu müssen – außer uns selbst, wenn wir es denn wollen.

EinGUTES NEUES JAHRvoll reicher Begegnungen mit fremden Welten!

2 Welten

Ich brauche wirklich wenig im Leben…

Ich sitze wie fast jeden Morgen bei einer Tasse Kaffee an meinem Ofen und schreibe. Die Strahlung des Ofens wärmt mir meinen Rücken und gibt mir ein wohliges Gefühl von Geborgenheit.
 
Es ist, als rede ich mit mir selbst, wenn ich schreibe. Ich unterhalte mich mit mir, mit meinen vielen Stimmen in mir, die alle mitreden wollen, die alle was zu sagen haben. Die alle wichtig sind.
Vor allem die Stimmen meiner „Inneren Kinder“ sind oft da, manchmal ganz still und leise, piepsend und kaum zu erlauschen, manchmal laut und aufdringlich, ängstlich, schreiend, kaum zu ertragen…
So habe ich immer alle Hände voll zu tun mit mir und meinem Leben.
 
Ich sehe mein Leben inzwischen wie ein Studium. Es gibt viele theoretische Semester, in denen ich vor allem vor mich hinstudiere, grüble, lese, wie denn das eine und wie das andere gut zu machen sein könnte.
Zur Zeit ist wieder mal „Mutterheilkunde“ dran. Wie oft dieses Fach in meinem „Leben nach der Kindheit“ nun schon dran war! Die ersten male mit fast unerträglicher Heftigkeit. In der Wiederholung dann noch immer sehr intensiv. Wir Männer haben zu diesem Fach ja eine ganz besondere Beziehung. Sind wir doch vom „anderen Geschlecht“ geboren und überwiegend großgezogen worden. Unser eigenes müssen wir erst im Lauf der Jahre noch finden.
 
Jetzt hab ich langsam meine Neugier an diesem Fach entdeckt und es wird spannender und zugleich ruhiger.
Auch andere Themen verlieren langsam an Heftigkeit und „befrieden“ sich. Die Stille in mir jetzt war der Mühen zuvor wirklich wert. Hier in der Stille ist Raum, in dem Neues wachsen darf. So wie ich es mir schon lange wünschte.
 
Neben den theoretischen Semestern sind da natürlich noch sehr viele praktische. Die haben es besonders in sich. Und theoretische und praktische Semester sind zeitlich oft völlig ineinander verwoben, wechseln stündlich und schneller.
Kann man sich die Realität in den theoretischen Semestern noch ganz gut so hinbiegen, wie man das gerne hätte, fällt man damit in den praktischen Semestern oft ziemlich auf die Nase. Kann „der Kopf“ in seinen Vorstellungen über das Leben noch so manches hinbiegen, stellt man in der Praxis fest: das Leben selbst lässt sich nicht verbiegen. Und nicht zwingen. Wo der Zwang kommt, hört das Leben auf, selbst wenn es manche Menschen nicht mehr wahrnehmen können, weil sie sich von ihrem „natürlichen Wesen“ längst weit entfernt haben und überwiegend nur noch nach festen Schemen funktionieren. Wie schade!
 
Wie dem auch sei, ich bin ein sehr neugieriger und aufmerksamer Schüler, sobald mich was wirklich interessiert. Und so habe ich die letzten Jahre gut gelernt und aufgepasst in der „Hochschule des Lebens“. Denn „as Lem intressiert mi z´doud“, um es in meinem Dialekt zu sagen!
 
So blicke ich wieder mal auf mein Leben. Da waren Phasen mit kärglichsten materiellen Verhältnissen. Meine Vorstellung, das Leben ist eine Dauerübung, mit geringsten Mitteln auszukommen, stellte sich nach einiger Zeit als Erbe der Kriegserlebnisse meiner Eltern heraus. Und doch zeigte es mir, mit wie wenig man auskommen kann, ohne Mangel zu erleiden und zu empfinden.
 
Ich lebe immer noch in „einfachen“ Verhältnissen. Auch wenn ich nicht in materiellen Nöten bin. Ich denke nach über meine Kinder, meine Freundschaften, meine Beziehungen, meine Möglichkeiten, meine Arbeit, wo ich gerade stehe….und ich stelle mit tiefer Dankbarkeit fest, dass ich reich beschenkt bin.. Ich habe 2 gesunde Kinder, Freunde, tiefe und sehr lebendige Kontakte, ein erfülltes Arbeitsleben, das mir vor allemmit meiner therapeutischen Tätigkeit Sinn in meinem Leben gibt. Und ich habe Möglichkeiten ohne Ende.
 
Ich bin in der Lage undhabe totalLust darauf, mein Leben so zu gestalten und zu leben, wie es mir wirklich gut tut! Endlich wieder. Wie ich es als Kind trotz – oder vielleicht gerade wegen – Mangel noch konnte: ich baute mir einfach eine „Burg“ im Wald, die mir die fehlende emotionale Geborgenheit bei der Mutter zumindest teilweise ausglich. Und ich baute zusammen mit Freunden einfach einen Drachen, um auf seinem Rücken die Welt draußen entdecken und erobern zu können, wie es Jungs nun mal so angeboren ist. Dies half uns, auch ohne unsere Väter ein Stück in die Welt rauszukommen.
 
Und immer wieder, wenn ich zuende gedacht habe wird mir klar:
Ich brauche wirklich wenig im Leben…
 
 Wenig, aber davon viel
  

…doch davon reichlich!

Herbst

Die ersten Zeichen des Herbstes haben sich wieder untrüglich in die Landschaft eingeprägt: die langsam farbig werdenden Blätter an den Bäumen, die lautlos und fast unsichtbar gewordenen Vögel, das geheimnisvolle Licht der Sonne, die Stille und Kühle der Morgendämmerung, die Wolkenbilder am Himmel, die ersten Herbstnebel im Tal, die taubenetzten, glänzendenSpinnweben in der Morgensonne…

       Herbstspinnen

Sie haben auch Einzug gehalten in meine innere Landschaft. Die Wogen des Sommers glätten sich langsam. Stille, Tiefe, Melancholie undauch das Gefühl von Einsamkeit sind wieder eingekehrt in die geheimnisvolle und unergründliche Landschaft meines Herzens.

Ich hatte dieses Jahr um viele und tiefe Begegnungen gebeten. Und wurde reich beschenkt. So reich, dass erst mein Sturz von einem Stiegengeländer mir bewusst machte, dass alles zuviel sein kann, sogar das Schöne. Es will erst „verarbeitet“, modifiziert, aussortiert, gelagert, integriert sein. Wie die Ernte von den Feldern. Bevor die Hitze des nächsten Sommers wieder neue Früchte bringen kann.

Es fällt mir – wie so vielen anderen auch – nicht leicht, die Stille und Tiefe des Herbstes nach einem bewegten, turbulenten Sommer anzunehmen. Mir Zeit dafür zu nehmen. Und das meist innewohnende Gefühl von Einsamkeit darin als wesentlichen Teil von mir selbst zu begrüßen.
Und doch entscheidet es darüber, ob meine Eindrücke wirklich verarbeitet und integriert werden, tiefe innere Beständigkeit erhalten. Ichso fortwährendaus dieser Erfahrung und Quelle in mir schöpfen kann.
Oder ob das meiste nach einem kurzen Aufflackern wieder in der Oberflächlichkeit des Alltags wie eine Eintagsfliege erlischt.

Obwohl mich die Stille, Tiefe, Abgeschiedenheit, die vielen sonnenlosen Wintertage, diese „einsame Schönheit“ im Dobltal manchmal auch sehr bedrücken, ist es doch genau diese Qualität, die mich nach einem erlebnisreichen Sommer langsam wieder zu mir kommen lässt.
Was der Herbst und Winter im Jahr sind, ist beim Tag der Abend. Oder wie bei mir, der noch dunkle Morgen.

Bin wieder eingetaucht in die Nachdenklichkeit und Melancholie, in die stille See des Herbstes. Wie jedes Jahr. Bis die nächste Meereswoge mich wieder aus meinem In-mich-gekehrt-sein reißen wird und mich zwingt, mich den unmittelbaren Anforderungen des Lebens zu stellen.

Ich wünsche jedem die Zeit und die Entscheidung für sich, um diese stille Tiefe in sich erleben zu können. Vielleicht bei tröpfelnder Musik und einer heissen Tasse Tee. Den Blick in die innereFerne schweifend…

Um Ernte zu halten. Herbstfrüchte

       

Würde und Selbstachtung

Kürzlich kam ich über die Arbeit mit einem Klienten an die Themen Würde und Selbstachtung. Da war die neue Info über die Sozialhilfe der Mutter.Zusammen mit den bisherigenBegegnungen mitdem Klienten kamen plötzlich etliche Gedanken und Gefühle in mir in Bewegung, vor allem bzgl. der Themen Würde und Selbstachtung.

Mir fiel der Artikel 1 des Grundgesetzes ein: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dabei überkam mich ein Gefühl von Ärger und Übelkeit. Es war, als hätte ich etwas Ekelhaftes entdeckt. Und so empfinde ich es auch – nach all dem selbst Erlebten, Gelesenen und dem, was ich bei KlientInnen mitfühlen kann. Der Artikel suggeriert als „Realität“, was im Außen eben NICHT wirklich ist: die Würde des Menschen ist eben NICHT unantastbar!! Ich empfinde das grotesk und als völlige Missachtung all der Menschen, deren Würde sehr wohl“angetastet“ wurde!

„Angetastet“, klingt beinahe zärtlich, zumindest vorsichtig. Ich würde es eher „die Würde mit Füssen getreten“ bezeichnen: von Diktatoren, Politikern, Institutionen, Beamten, vom „lieben Nachbarn“, vom Partner, von den Eltern, irgendwann von den Kindern untereinander…undschließlich wir bei uns selbst.

Dieser – treffender weise erste – Satz im Grundgesetz ist für mich kollektive Verdrängung pur. Wie soll bei so viel „nicht sehen wollen/können/dürfen“ eine Veränderung oder gar Heilung passieren?

Mir fallen einige Situationen ein, in denen ich mich als Kind so furchtbar gedemütigt, bloßgestellt, lächerlich gemacht gefühlt habe.

So sah ich vor meinem inneren Auge den Klienten als kleinen Jungen mit seiner Mutter, die sich abmühte, unter der ganzen Verachtung, Abwertung und Demütigung durch die „Umwelt“ ihr letztes bisschen Selbstachtung und Würde nicht zu verlieren. Um zu überleben, versuchte sie etwas vorzuspielen: um mehr (notwendiges) Geld zu erhalten, um als „Wer“ und nicht als „Nichts“ dazustehen…um zumindest die Illusion einer gesellschaftlichen Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Ich würde mich als Kind schrecklich und völlig hilflos fühlen, die Würde meiner Eltern „im Dreck“ zu erleben, sozial geächtet zu sein. Kinder spüren intuitiv diesen gesellschaftlichen Ausschluss. Sie reagieren mit heftigen Ängsten und Stress. Bedeutete der Ausschluss aus der Gesellschaft doch früher (als wir noch in Stämmen lebten) den sicheren Tod. Die Gehirnforschung weist diese urtiefe Angstreaktion bei sozialem Ausschluss eindeutig nach. Um diesen auf Dauer unerträglichen Gefühlen, mit welchen dieser kleine Junge bei niemandem Hilfe findet, zu entkommen macht er das, was ihn überleben lässt: er macht sich größer, weil er von außen klein gemacht wird…so hat er zumindest die Phantasie, dazuzugehören, zu einer Gesellschaft zu der man nur dazu gehört, wenn man „Wer“ ist. Für (Tauge-)“Nichtse“ ist da kein Platz.

Wie viel erlittene Verletzung, Schmach, Erniedrigung, Ent-Würdigung…wartet da wohl noch unbeachtet in irgendeiner verstaubten Ecke unserer Kinderseele darauf, endlich gesehen, gefühlt und ausgedrückt zu werden? Als Kinder waren wir diesen Umständen hilflos ausgeliefert. Jetzt als Erwachsene haben wir die Möglichkeit, unsere Würde und Selbstachtung wieder zu gewinnen, wo sie uns als Kind genommen wurde.

Unser „Inneres Kind“ zeigt uns den Weg.

Ich wünsche jedem viel Glück dabei! Ilz an der Schrottenbaummühle

Begegnung

Wieder zurück vom Seminar. Hatte mich sehr darauf gefreut. Schließlich war ich schon lange auf keinem mehr gewesen. Ich freute mich auf Kontakt, Begegnungen, neue Menschen.
Da waren sie nun, die „neuen Menschen“. Und irgendwie bekam ich – bis auf wenige und kurze Ausnahmen – keinen richtigen und herzlichen Kontakt. Ich bemühte mich, war neugierig. Doch irgendwie ging es mir wie als Kind: je mehr ich versuchte und je mehr ich nachfragte, umso allgemeiner wurden die Antworten. Ich spürte, dass manchen Leuten die Fragen unangenehm waren, sie scheinbar überforderten und sie auf Distanz zu mir gehen ließen. Ich kam einfach nicht durch. Ja, wo „durch“ eigentlich?

Da war es wieder, das alte Maskenspiel, dass ich als Kind so zu hassen gelernt hatte. Hatte es mich doch in meinen kindlichen Gefühlen und Wahrnehmungen ständig in Verwirrung gebracht. Was stimmte denn nun: das was ich in mir fühlte oder das was meine Eltern – oder die Leute am Tisch – darüber sagten?!
Ich entschloß mich offensichtlich, meinen Gefühlen nicht mehr zu trauen. Dadurch wurde es irgendwie erträglicher. Auf diese Weise übernahm ich genau die Masken, die mir das Leben so schwer machten. Und ich erliege ihnen immer und immer wieder. Es ist wirklich zum Haare ausreissen.

Also bemühte ich mich im Laufe des Seminars, meine Masken zu erkennen. Und die der anderen. Hinterfragte mich und die anderen. Suchte nach einem Weg hinter die Masken. Meine Reaktionen wechselten zwischen offen fragen, Neugier, mich schützen in der Überheblichkeit, Ungeduld, Unmut, Resignation und einfach weiter da bleiben und aushalten. Mich, die anderen, die Situation. Ich bin froh, dass Letzteres überwog. Die Reaktionen der anderen gingen von Oberflächlichkeit, Abstand, Schweigen, Vorsicht, verhaltene bis offene Neugier. Vereinzelt auch kurze „wirkliche“ Begegnung. Diese freuten mich besonders und geben mir noch jetzt ein Gefühl von Zugehörigkeit.

Was ist für mich eine „wirkliche“ Begegnung?
Ich nenne und empfinde eine Begegnung „wirklich“, wenn ich berührt habe und/oder berührt wurde. Hinter den Masken. Und sich dadurch etwas in mir und/oder dem anderen zu bewegen und verwandeln beginnt. Ich denke, dass es mit Heilung im weitesten Sinne zu tun hat. Und ich glaube, dass daraus auch etwas „Neues, Übergeordnetes geboren“ wird. Eine Idee, ein Kontakt, ein Projekt.
Am Beispiel der Begegnung von Mann und Frau sehe ich das so: ihre Begegnung beeinflußt und verändert beide nachhaltig. Dies verkörpert den individuellen Aspekt einer Begegnung. Wurde dabei ein Kind gezeugt, steht dieses für den gemeinschaftlichen Aspekt einer Begegnung. Neben diesen beiden, irdischen Aspekten sehe ich auch noch einen spirituellen Aspekt, der für mich durch das eigene Wesen, das ein Kind „mitbringt“, verkörpert ist.

Trotz meines Bemühens konnte ich auf dem Seminar weiterhin nicht „wirklich“ begegnen. Das meiste blieb an der Oberfläche, hinter den Masken. Und das bei einem alten, heiligen Ritual, der Schwitzhütte. Wo es doch genau um die Verbundenheit und Begegnung mit allem geht.

So fuhr ich angestrengt und frustiert wieder nach Hause und begann, „mir von der Seele zu schreiben“.
Mir war vor dem Seminar gar nicht bewußt geworden, wie sehr ich mich nach neuen Begegnungen gesehnt hatte. Das wurde mir erst bewußt, als ich meine Enttäuschung spürte, so wenig begegnet zu sein.
Plötzlich erinnerte ich mich an meine Vorfreude, wenn ich – nach ewiger Zeit – wieder einmal nach Hause zu meinen Eltern (und Geschwistern) fuhr. Nichts in mir erinnerte sich daran, wie es das letzte mal gewesen war, und vor dem letzten mal, und davor…enttäuscht und frustriert fuhr ich jedesmal wieder zurück, nicht bekommen zu haben, was ich mir jedesmal – völlig unbewußt – so sehr gewünscht hatte: das es EINMAL anders sein würde, als es immer schon war und ich endlich meinen Eltern wirklich „begegnen“ würde. Ich „vergaß“ jedesmal erneut, wie es das letzte mal gewesen war. Es hätte mich sonst jeder Hoffnung beraubt, an die ich mich noch so sehr klammerte.
Doch es wurde nie anders.

Ich hatte mich als Kind immer bemühen müssen, unmögliche Sachen angestellt und meinen Eltern „viel Sorgen bereitet“ ,nur um ihnen überhaupt irgendwie zu „begegnen“. Ich wußte lange nicht, dass man auch ganz mühelos begegnen kann. Das hatte ich als Kind einfach nie erfahren.

Langsam glaube ich zu verstehen: mein Inneres Kind hatte sich einfach nach „zuhause“ gesehnt, warum und wie auch immer. Ich hatte es nicht wahrgenommen und konnte ihm so nicht selbst „Mama und Papa“ sein, ihm kein Zuhause geben. Also suchte ich/mein inneres Kind die Begegnung mit einer „Wahlfamilie“. Da waren sie alle auf dem Seminar: „Mama“, „Papa“, „Geschwister“. Ich konnte sie mir nach Belieben aussuchen. Und so bemühte ich mich wie gewohnt um „Begegnungen“! Und machte fast die gleiche Erfahrung, wie schon immer zuhause.

Ich weiß durch dieses Seminar jetzt ein Stück mehr, dass es sehr wahrscheinlich mein von mir nicht gut versorgtes, bedürftiges inneres Kind ist, wenn ich wieder mal meine, mich um eine Begegnung bemühen zu müssen!
Ich glaube, dass Begegnung im Grunde leicht ist. Das merke ich besonders bei den Begegnungen, die einfach sofort und von alleine geschehen. Andere wiederum brauchen einfach Zeit. Und manche geschehen nie. Müssen sie auch nicht.

Ich tu´ mich immer wieder schwer, meine Bedürfnisse als erwachsener Mann von den Bedürftigkeiten meines inneren Kindes zu unterscheiden und entsprechend dafür Sorge zu tragen. Doch mit wachsender Erfahrung steigt auch meine Unterscheidungsfähigkeit.

Letztlich hatte die Mühe bezüglich meines Wunsches, auf diesem Seminar „zu begegnen“, für mich Sinn gemacht:
Ich bin mir, meinem Inneren Kind begegnet. Und mir wurde wieder ein Stück klarer: ohne vorher mir selbst begegnet zu sein, kann ich auch keinem anderen wirklich begegnen.
Ich glaube, dass dies die „unbewußte Absicht“ vieler unserer „Lebensinszenierungen“ ist. Nämlich uns selbst darin „wirklich“ zu begegnen und so selbst für uns sorgen zu lernen. Dies entspricht letztlich dem natürlichen Prozess der Ablösung von den Eltern und ermöglicht den „Ausstieg“ aus den inneren Abhängigkeiten zu Menschen.

Da, wo ich meiner Kindheit er-wachsen bin, kann ich wirklich wählen. So erlebe ich es jedenfalls, Schritt für Schritt.
Ich empfinde jeden dieser Schritte des Er-wachsens und Mir-selbst-begegnens als grosses Glück.
Selbst wenn die Vorarbeit für diese Schritte oft sehr mühevoll ist und manchmal pure Verzweiflung auslöst.

Feuersonne in Norwegen

Für mich ist sie der Weg in die innere Freiheit.

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